Book 78

Die Studie analysiert den Wandel der Organisation und der Politik der IG Chemie-Papier-Keramik seit den siebziger Jahren. Als Leitimpulse dieses Wandels gelten das Auslaufen des Wachstums-Vollbeschaftigungs-Automatismus der bundesdeutschen Wirtschaftswundergesellschaft, die Politisierung industrieller Produktion durch eine gesellschaftlich breitenwirksame Okologiekritik und die mit der Entwicklung zur Angestelltengesellschaft verbundenen gewerkschaftlichen Rekrutierungsprobleme. Die Aufnahme und Verarbeitung dieser Probleme durch die IG Chemie-Papier-Keramik erfolgt im Sinne einer branchenzentrierten Industriepolitik, die auf branchenwirtschaftliche Kooperation anstelle konflikthafter Interessendurchsetzung als zentrales Vertretungsmittel setzt. Diese Politik bildet eine Variante einer allgemeinen Tendenz, die branchenubergreifenden gewerkschaftspolitischen Positionen dauerhaft die Substanz entzieht.

Gegenstand der Untersuchung ist die Neuordnung betrieblicher Interessenstrukturen in Ostdeutschland von 1989 bis 1993. Die Entstehung von Betriebsraten wird handlungstheoretisch als Institutionenbildung gefasst. Ziel der Arbeit ist die Analyse allgemeiner betrieblicher Problem- und Handlungskonstellationen (Personalabbau, Sozialplanpolitik, Umsetzung der Tarifvertrage, Betriebsrate und Arbeitskampf, Betriebsrate und Gewerkschaften). Die empirische Basis bilden 21 ursprunglich grossindustrielle Betriebe in Thuringen, Sachsen und im ehemaligen Ostberlin, die zu DDR-Zeiten bereits bestanden. Auf dieser Grundlage werden allgemeine Entwicklungstrends ostdeutscher Betriebsrate als Bestandteil des Systems industrieller Beziehungen aufgezeigt. Eine Bilanz nach der ersten gesamtdeutschen Betriebsratswahl im Fruhjahr 1994 kommt zu dem Ergebnis, dass sich aus den Impulsen des ostdeutschen betrieblichen Neuanfangs Ende 1989 und dem Transfer westdeutscher Institutionen eine durchaus eigenstandige Variante des dualen Vertretungssystems entwickelt hat, die nicht nur vorubergehend Bestand haben wird.