Book 5

Das Wallfahren war seit der Aufklarung eine staatlich und kirchenamtlich missbilligte Volksfroemmigkeitsform, die sich jedoch weiterhin grosser Beliebtheit erfreute. Nachdem schon in der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts die Koelner Kurfursten und zeitweilig auch die nachfolgende franzoesische Verwaltung mehrtagige Wallfahrtsprozessionen untersagt hatten, unterwarfen nach dem Wiener Kongress, der das Rheinland Preussen uberantwortete, die preussischen Behoerden das nordrheinische Wallfahrtswesen 1816 einem einschnurenden Regelwerk, um mittels rigider klerikaler und polizeilicher Kontrolle die Einhaltung von "Zucht und Ordnung" und langfristig eine Verminderung der Wallfahrtszuge zu erreichen. Als sich jedoch diese Reduzierungshoffnung wegen des ungebrochenen Wallfahrtsdrangs der katholischen Bevoelkerung nicht erfullte, verbot 1826 der neue Koelner Erzbischof Graf Spiegel, ein Vertreter der katholischen Aufklarung, mehrtagige oder die Bistumsgrenzen uberschreitende Wallfahrtszuge. In verwaltungsinternen Verfugungen beauftragte der Staat seine Exekutivorgane mit der Durchsetzung des kirchlichen Wallfahrtsverbots auf dem Gebiet des Erzbistums Koeln.

Book 7


Book 8

Nachdem der Koelner Erzbischof Spiegel 1826 alle mehrtagigen und uberdioezesanen Wallfahrtszuge verboten hatte, half der preussische Staat unter Polizeieinsatz bei der Durchsetzung des kirchlichen Wallfahrtsverbots im Nordrheinland. Diese staatliche Exekutivassistenz trug dazu bei, dass die grossen feierlichen Wallfahrtsprozessionen mit Insignien und Priesterbegleitung weitgehend zum Erliegen kamen. Als Erzbischof Droste-Vischering 1837 Wallfahrten auf Antrag wieder gestattete, duldete der Staat die sofort zunehmenden Wallfahrten stillschweigend, kehrte dann aber nach der Inhaftierung des Erzbischofs im Einverstandnis mit seinem die Amtsgeschafte weiterfuhrenden Generalvikar 1838 im Prinzip wieder zur fruheren Politik der Wallfahrtsrepression im Bundnis mit der Kirche zuruck. Wegen der durch den Koelner Kirchenstreit ausgeloesten Unruhe in der katholischen Bevoelkerung und aus Sorge um die Popularitat der preussischen Herrschaft am Rhein veranlasste der Kultusminister, dass die - im Ganzen wenig flachendeckende und energische - Amtshilfe des Staates bis 1839/40 faktisch eingestellt wurde. 1842 stimmte der Staat auf Bitte des neuen Erzbischofs Geissel anlasslich des Kevelaerer Wallfahrtsjubilaums auch der Aufhebung des kirchlichen Wallfahrtsboykotts und der Wiederverkirchlichung des Wallfahrtskults zu.

Book 11

Wahrend des Kulturkampfes wurde innerhalb der preussischen Regierung und Verwaltung uber die politische Angebrachtheit, das wunschenswerte Ausmass und die ausseren Modalitaten einer staatlichen Repression des Wallfahrts- und Prozessionswesens intensiv diskutiert. Das Diskussionsergebnis bestand in der Ministerialverfugung vom 26. August 1874, welche das Wallfahrts- und Prozessionswesen auf der Grundlage des preussischen Vereinsgesetzes von 1850 ausserst restriktiv reglementierte, wahrend das preussische Staatsministerium in seiner Sitzung vom 22. Oktober 1875 den von Kultusminister Falk und Innenminister zu Eulenburg beantragten Beschluss, im Bundesrat ein reichsweites Wallfahrts- und Prozessionsverbotsgesetz einzubringen, mehrheitlich ablehnte, weil die fragliche Materie im Rahmen eines speziell gegen das katholische Vereinswesen gerichteten Ausnahmegesetzes geregelt werden sollte. Ein solches antikatholisches Ausnahmegesetz kam jedoch nie zustande, so dass im Ganzen der Kulturkampf schwerpunktmassig eine Kirchenverfolgung im Sinne einer Institutionenverfolgung blieb, die das Glaubensleben der Laien zumindest gesetzgeberisch unangetastet liess.